Die von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik geforderte Verkürzung der Ausbildungszeiten sowohl an Universitäten als auch in Ausbildungsbetrieben bringt nicht nur gesellschaftliche Vorteile mit sich, sondern hat auch gravierende Schattenseiten für die Studierenden und Auszubildenden. Gerade durch die Verschulung des Hochschulstudiums im Rahmen des Bologna-Prozesses wurde die Belastung auf Seiten der Studenten drastisch erhöht, was zu entsprechenden [url=http://www.welt.de/morgenpost/article1688557/Ueberforderte_Studenten_im_Drogenrausch.html]Folgeerscheinungen[/url] wie Alkoholismus und Drogenkonsum führt. Der Wandel weg vom humanistischen Studium hin zum reinen Ausbildungsstudium läßt Wilhelm von Humboldt wohl im Grabe rotieren.
In der Gesellschaft wird das Problem immer noch skeptisch angesehen, im schlimmsten Fall ist sogar von Faulheit der Studierenden die Rede. Diese Haltung entspringt teilweise aus Unwissenheit über die Situation, teilweise schlicht aus [url=http://tinyurl.com/52d73a]Ignoranz[/url]. Daß die Problematik eher sträflichst unterschätzt wird und schlichtweg in einer Katastrophe enden kann, zeigt sich an einem Fallbeispiel eines Kommilitonen der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Leider handelt es sich um keinen Einzelfall, aber in seiner traurigen Brisanz sticht er wohl heraus. Mein langjähriger bester Freund G., den ich seit der fünften Klasse kannte und der zweienhalb Jahre lang mein Mitbewohner in Kiel war, hat sich im Februar diesen Jahres mit einer Schrotflinte das Leben genommen. G. wurde 27 Jahre alt.
Wie konnte es soweit kommen? Aufgrund der immensen Tragik des Vorfalls (auch für mich persönlich) möchte ich die Umstände kurz schildern: G. fiel schon zu Schulzeiten durch eine außergewöhnliche Begabung und Allgemeinbildung auf, ohne dabei als Streber zu gelten. In seiner Freizeit war er sozial engagiert und Mitglied in der freiwilligen Feuerwehr, wo er im vergangen Jahr zum Oberfeuerwehrmann befördert wurde.
Nach dem Abitur (Note 1,2) begann G. eine zwei-jährige Ausbildung bei der Bundeswehr, wo er schließlich zum Oberleutnant d. R. befördert wurde. Im Anschluss an seine Dienstzeit fing er ein Studium der BWL an der Uni-Lüneburg an, wo er nach drei Semestern das Vordiplom mit mit Note 1 abschloss; dabei hatte er schon Scheine des Hauptstudiums gemacht. Danach wechselte er den Studienort nach Kiel und gründete mit mir eine WG. Im ersten Jahr hatte er nach wie vor einen sehr guten Studienerfolg, bis sich schleichenderweise eine Veränderung in seinem Tag-Nacht-Rhythmus bemerkbar machte, die schließlich in einer schweren Depression mündete, durch die seine Studientätigkeit zum Erliegen kam. Letztendlich ergab sich dadurch wohl ein negativer Rückkopplungsmechanismus.
Nun ist es nicht so, daß Familie und Freunde nichts von seinen persönlichen Problemen bemerkt hätten. Leider hat, wohl auch aus Unkenntnis, niemand diese Entwicklung vorhergesehen. Nach außen machte G. nach wie vor einen lebensfrohen Eindruck, hatte einen großen Freundeskreis und nahm am außeruniversitären studentischen Leben teil.
Er machte mehrere Praktika in einer Hamburger Reederei, die ihn im letzten Jahr fest anstellen wollte (ohne Abschluß!). Auf Nachfrage gab er an, innerhalb der nächsten zwei Jahre an der CAU einen Abschluß mehr machen zu können, da die von ihm gemachten Scheine aus der Anfangszeit seines Hauptstudiums mittlerweile „verfallen“ seien. Pikanterweise handelte es sich dabei unter anderem um die von ihm im Grundstudium gemachten Scheine. Als Lösung des Problems gab er an, die ihm angegebotene Festanstellung in der Reederei annehmen zu wollen und sein Studium als Fernstudium zu beenden, was auch in seinem Umfeld auf großen Zuspruch stieß. Der letztendliche Entschluß zur Selbsttötung bleibt dadurch unverständlich genug.
Neben der persönlichen Tragik, die sich für einen riesigen Personenkreis (zur Trauerfeier kamen an Familie, Freunden und Kameraden über 200 Leute) ergibt, stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Ausprägung dieser Problematik. Laut Statistik ereignen sich in Deutschland jedes Jahr rund 11.000 Selbsttötungen (Straßenverkehr 5000). Die jüngsten Diskussionen über das Tempolimit zeigen jedoch leider, welche Bereiche des täglichen Lebens als Wahlkampfthema taugen und welche nicht. Aber auch auf lokaler Ebene besteht erheblicher Handlungsbedarf.
Da der Vorfall mich persönlich in eine schwere Krise gestürzt hat, in der ich noch heute stecke, habe ich den Versuch gemacht, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als Kassenpatient habe ich bei fünf verschiedenen Ärzten angerufen, die Antwort war immer die gleiche: Wartezeit drei bis sechs Monate (sic!), vielleicht „haben Sie Glück und es fällt vorher jemand aus“. Eine interessante Formulierung. Was nützt der Gute Wille unter solchen Umständen. Glücklicherweise konnte ich mir durch „Beziehungen“ einen kurzfristigeren Termin organisieren.
Aber auch die Hochschulen müssen Verantwortung übernehmen. Es darf nicht sein, daß sich die Universitäten als Handlanger der Wirtschaft aufstellen und sich zum Ziel machen, innerhalb kürzester Zeit „Fachidioten“ am Fließband produzieren zu wollen. Der fromme Wunsch der Studienzeitreduzierung, und zu nichts anderem dienen Maßnahmen wie die Einführung „sich-selbst-terminierender“ Scheine, kann doch nicht über die Inkaufnahme von gesundheitlichen Risiken für die Auszubildenden und Studierenden erfolgen. Dies ist auch in Zeiten der Globalisierung einer Dichter- und Denkernation unter humanistischen Gesichtspunkten schlichtweg unwürdig.
Zur Verbesserung der Situation sollte wieder mehr Wert auf eine umfassende Ausbildung gelegt werden, die sich an der Leistungsfähigkeit des einzelnen orientiert, anstatt den Nürnberger Trichter zu bemühen und sich einen Absolventen „backen“ zu wollen. Das universitäre Studium muß wieder auf die reflexive Bedeutung des Begriffs SICH ereifern zurückgeführt werden und sich nicht auf die bloße Ausführung von wie auch immer durchs Bildungsministerium geprügelten Studienordnungen beschränken.
Weiterhin mangelt es auch an einer umfassenden Betreuung der Studierenden, die in Sachen Studienberatung ziemlich allein auf weiter Flur stehen. Studium und Ausbildung sind prägende Abschnitte im Leben der Betroffenen, und bei aller geforderten Selbständigkeit muß es auch eine entsprechende Infrastruktur zur Unterstützung dieser Personengruppen geben.
Mag die Gesellschaft insgesamt sich im Umbruch befinden, die gegenwärtige Situation gibt Anlaß zur Sorge. Es muß schleunigst über generelle Maßnahmen nachgedacht werden, um das soziale Gefüge wieder in Ordnung zu bringen, sonst drohen diesem Lande schwere, schwere Zeiten.
Ruhe in Frieden, mein Freund.